Veranstaltung: | Landeskonferenz 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | 10 Antragsberatung |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landeskonferenz |
Beschlossen am: | 28.09.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Sag wer soll dich beschützen? Ostdeutsche Polizisten? - Sekundäre Viktimisierung in Polizei und Justiz bekämpfen!
Beschlusstext
Deutschland und Thüringen sind nach geltendem internationalen und nationalen
Recht dazu verpflichtet, eine diskriminierungsfreie und effektive
Strafverfolgung von rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt
sicherzustellen. In der Realität sieht das für Betroffene allerdings anders aus.
Sekundäre Viktimisierung ist ein strukturelles Problem in der deutschen Polizei
und Justiz.
Viktimisierung ist ein Begriff, der den Prozess des “Zum-Opfer-Werdens”
beschreibt. Die primäre Viktimisierung meint die “eigentliche” Schädigung durch
eine Gewalt- oder andere Straftat. Die sekundäre Viktimisierung ist eine
erneute, “zweite” Schädigung, die im Anschluss an die Straftat erfolgt. Dies
kann zum Beispiel durch Fehlreaktionen durch das soziale Umfeld,
Medienberichterstattung oder Strafverfolgungsbehörden - Polizei,
Staatsanwaltschaften oder Gerichte - erfolgen. Insbesondere für Betroffene
rechter Gewalt besteht ein erhöhtes Risiko für sekundäre Viktimisierung. Eine
Studie des Verbandes BRG mit dem IDZ aus dem Dezember 2023 zeigte, dass die
sekundäre Viktimisierung Betroffenen bei der Polizei und in der Justiz als
Täter-Opfer-Umkehr, als Unterstellung von Provokation oder Zuschreiben von
Mitverantwortung der Opfer an den Angriffen begegnete. Zusätzlich fiel
insbesondere die lückenhafte Aufklärung der Betroffenen über ihre Rechte und
Unterstützungsmöglichkeiten, die mangelnde Kommunikation mit den Betroffenen bis
hin zu offenen Feindseligkeiten und teils diskriminierenden Einschüchterungen
der Betroffenen auf. (»Sekundäre Viktimisierung von Betroffenen rechter,
rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt – Fokus: Polizei und
Justiz« (Geschke et al. 2023))
Wenn staatliche Strafverfolgungsbehörden nicht angemessen oder fehlerhaft
handeln, kann bei Betroffenen das Gefühl entstehen, der Gewalt schutz- und
hilflos ausgeliefert zu sein.
Rechte Gewalt ist seit vielen Jahren im Vormarsch. Insbesondere nach den
Wahlerfolgen der AfD in den vergangen Wahlen bleibt zu befürchten, dass dies
einen mobilisierenden Effekt auf die rechte Szene hat, der auch die
gewaltbereiten Teile der Szene umfassen könnte.
Umso wichtiger ist es, dass in diesen Zeiten die Betroffenen von rechter Gewalt
bestmöglich geschützt werden und die Strafverfolgung hier effektiv und
konsequent handelt. Um das zu ermöglichen, braucht es einen umfassenden Wandel
in den Behörden.
Die Jusos Thüringen fordern, dass sekundäre Viktimisierung durch Polizei und
Justiz konsequent bekämpft und rechte Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden
lückenlos verfolgt und aufgeklärt wird.
Dafür müssen die folgenden Maßnahmen ergriffen werden:
Die Bedrohung erkennen: Rechte, rassistische, antisemitische,
queerfeindliche und sexualisierte Gewalt muss als ernsthafte
gesellschaftliche Bedrohung anerkannt und dementsprechend angemessen
behandelt werden.
Rechte Gewalt erkennen und benennen: Insbesondere rechte Gewalt muss
zuverlässig erkannt und in der strafprozessualen Aufklärung berücksichtigt
werden. Dazu bedarf es umfassender Schulungen und Sensibilisierungen für
Rechte Gewalt und Ideologien der Beamt:innen in Polizei und Justiz in der
Ausbildung und als Fortbildungen. Nur so kann sichergestellt werden, dass
rechte Straftaten verlässlicher in den zutreffenden PMK-Kriterienkatalogen
erfasst, die Dunkelziffer rechter Gewalt verringert und die rechte Gewalt
als gesellschaftliches Problem mit Zahlen belegbar gemacht werden kann.
Strafverfolgung verbessern und Vertrauen stärken: Um den Zugang zur
Strafverfolgung von rechter Gewalt zu erleichtern, müssen bundesweit
spezialisierte Beauftragte für Rassismus bei der Polizei als
Ansprechpartner:innen für Betroffene geschaffen werden. Darüber hinaus
braucht es Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Betroffenen von
Hasskriminalität. So könnte dazu beigetragen werden, das Vertrauen der
Betroffenen in Strafverfolgungsbehörden zu fördern und in den Rechtsstaat
zu stärken. Durch die Bündelung in einer Schwerpunktstaatsanwaltsschaft
kann eine schnellere, effizientere und mit angemessenerer Expertise
ausgestattete Bearbeitung der Fälle sichergestellt werden. Ein positives
Beispiel und Vorbild können hier die Beauftragten für Antisemitismus in
der Justiz und Polizei und die Schwerpunktstaatsanwaltschaften für
Hasskriminalität in Berlin, Brandenburg und Hamburg sein.
Opferrechte berücksichtigen: Betroffene stehen im Strafverfahren
Opferrechte zu. Die garantieren auch den Zugang zu unabhängigen,
professionellen und fachspezifischen Beratungsstellen. Damit Betroffene
rechter Gewalt über ihre Rechte, Handlungsmöglichkeiten und
Unterstützungsmöglichkeiten informiert und aufgeklärt werden, braucht es
bessere Informationsvermittlung durch Polizei, Staatsanwaltschaften und
Gerichte an die Betroffenen. Die Informationen über diese Möglichkeiten
müssen verpflichtend von den Behörden an Betroffene weitergegeben werden.
Außerdem müssen flächendeckend in den Polizei-und Justizbehörden
flächendeckend Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen angeboten
werden. Außerdem muss sichergestellt werden, dass geeignete
Dolmetscher:innen im Ermittlungs- und Strafverfahren zur Verfügung stehen
und zugezogen werden.
Insbesondere in der Polizei muss sich zur Bekämpfung rechte Gewalt ein großer
Wandel vollziehen. Deswegen fordern wir die Umsetzung folgender Maßnahmen in der
Polizei:
Diskriminierungssensibles Wissen und Kompetenzen müssen neben einer
antidiskriminierenden Haltung und einer diversitätssensiblen
Personalentwicklung in den Polizeibehörden Einzug finden.
Rechte Gewalt in ihren vielfältigen Formen kann nur zuverlässig als solche
erkannt werden, wenn das polizeiliche Fachwissen zu rechter Gewalt,
Diskriminierung und Hasskriminalität ausgeweitet und nach
wissenschaftlichen Erkenntnissen regelmäßig aktualisiert wird. Die
aktuellen Ausbildungs- und Fortbildungsinhalte müssen entsprechend
angepasst werden.
Um polizeilichem Fehlverhalten in Form von rassistischer, antisemitischer
oder anderer Diskriminierung entgegenzuwirken, braucht es aussagekräftige
Studien zum Ausmaß von Rassismus, Antisemitismus und rechten Einstellungen
in den Polizeibehörden von Bund und Ländern. Zuzüglich dazu braucht es
eine Ausweitung der Unterstützung von Forschungen zu Rassismus,
Antisemitismus und deren Zusammenwirken mit anderen Formen von
Diskriminierungen innerhalb der Polizei. Nur so kann das Ausmaß des
Problems aufgezeigt und verstanden werden.
Es müssen in allen Bundesländern unabhängige Polizeibeauftragte und/oder
Beschwerdestellen geschaffen werden. Diese müssen mit umfassenden
Akteneinsichts-, Zutritts- und Zeugeneinvernahmerechten sowie
Zeugnisverweigerungsrechten ausgestattet werden. Nur so können die Rechte
der Betroffenen geschützt und die Beschwerden zu polizeilichen
Fehlverhalten transparent und effizient bearbeitet werden. Bislang ist
dies nur in 7 von 16 Bundesländern der Fall.
Es muss eine Fehlerkultur innerhalb der Polizei etabliert werden, in der
Fehlverhalten und -reaktionen erkannt, aufgeklärt und aufgearbeitet werden
können, um nachhaltige Veränderungen für die Zukunft zu schaffen.
In der Justiz fordern wir die Umsetzung der folgenden Maßnahmen:
Die Bundesregierung und das Bundesministerium für Justiz müssen eine
ausdrückliche Ermittlungs- und Dokumentationspflicht in den Richtlinien
für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) verankern, das
die Ermittlungsbehörden dazu verpflichtet, bei Verdachtsfällen potentiell
rechten Tatmotiven nachzugehen und diese gegebenenfalls aktiv ausschließen
zu müssen.
Um den rechtlich vorgeschriebenen Opferschutz zu gewährleisten, muss den
Geschädigten und Zeug:innen in Ermittlungs- und Strafverfahren in Fällen
rechter Gewalt rechtzeitig die Möglichkeit aufgezeigt und gegeben werden,
statt ihrer Privatadresse eine andere ladungsfähige Anschrift zu den Akten
zu geben.
Es müssen in allen Amtsgerichten barrierefrei zugängliche
Zeugenschutzräume für Betroffene eingerichtet werden, die eine
gerichtliche Vernehmung in einem geschütztem Rahmen, fern der
Öffentlichkeit ermöglichen.
Staatsanwaltschaften und Gerichte sollen die bestehenden rechtlichen
Möglichkeiten konsequent nutzen, um eine effektive Strafverfolgung rechter
Gewalt zu gewährleisten. Deswegen muss das öffentliche Interesse an der
Strafverfolgung bei antisemitischen und rassistisch motivierten
Körperverletzungen, sowie bei Beleidigungen, Bedrohungen und
Sachbeschädigungen stets bejaht werden. Außerdem soll die Möglichkeit der
Strafschärfung bei rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und
menschenverachtenden Motiven gemäß § 46 II 2 StGB konsequenter
berücksichtigt werden.
Darüber hinaus fordern wir, dass Opferberatungsstellen für Betroffene rechter
Gewalt eine ausgeweitete und verstetigte Finanzierung erhalten, um die
hilfreiche und wertvolle Arbeit für Betroffene weiter und mit mehr Ressourcen
ausführen zu können.
Antragsbegründung
erfolgt mündlich.