Veranstaltung: | Landeskonferenz der Jusos Thüringen 2022 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 6 Antragsberatung |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landeskonferenz |
Eingereicht: | 03.08.2022, 13:14 |
Antragshistorie: | Version 1 |
SPNV in Thüringen: Wie wir die richtigen Weichen stellen
Beschlusstext
Der SPNV als ungeliebtes Pendant zum Fernverkehr
Das Thema Schienenverkehr und insbesondere der Schienenpersonennahverkehr (SPNV)
wurde in Thüringen lange recht lieblos behandelt. Einerseits gab es seit 1990 an
wichtigen Strecken Ausbau- und Modernisierungsmaßnahmen - beispielsweise durch
die “Verkehrsprojekte Deutsche Einheit”, andererseits sorgte die Privatisierung
der Bundesbahn jedoch für eine Fokussierung auf den gewinnbringenden
Fernverkehr. In der Folge verfielen große Teile des Streckennetzes im Nahverkehr
- insbesondere in den peripheren Regionen. So kommt man heutzutage zwar in
Windeseile nach Berlin oder München, aber größere Thüringer Städte wie Jena sind
inzwischen vom ICE-Verkehr abgekoppelt und Städte wie Ilmenau, an denen eine
Strecke unmittelbar vorbeiführt, wurden nicht angeschlossen.
Viele Zugverbindungen sind stillgelegt, an manchen Stellen wurden mittlerweile
sogar die Gleise abgebaut. Beträchtliche Teile der Schienenverkehrsinfrastruktur
befinden sich noch auf dem Stand des vergangenen Jahrhunderts oder sind gar noch
älter. Auch das Rollmaterial (alle Fahrzeuge der Eisenbahn) ist teils veraltet
und größtenteils nicht barrierefrei. In der Konsequenz sind die
Regionalverbindungen in Thüringen oftmals sehr langsam und schlecht
frequentiert.
Das Credo “Schiene vor Straße” trägt die Politik bereits jahrelang vor sich her.
Wirklich passiert, ist nur wenig. Um eine tatsächliche Verkehrswende
herbeizuführen, braucht es daher massive Investitionen in Schiene: sowohl in das
Streckennetz und dessen Infrastruktur als auch in das Rollmaterial. Nur wenn das
gewährleistet ist, gehört der Bahn die Zukunft.
Unsere Forderungen für einen zukunftsfähigen SPNV
→ Mehr Verbindungen, schnellere Verbindungen, die Bahn muss zurück aufs Land
Damit künftig mehr Menschen zum Umstieg vom Auto auf die Bahn motiviert werden
können, muss die Bahn wieder attraktiver werden. Verbindungen, die die doppelte
oder dreifache Fahrzeit im Vergleich zum Auto benötigen oder so selten befahren
werden, müssen perspektivisch der Vergangenheit angehören.
Die vorhandenen Strecken sind folglich zu ertüchtigen und für höhere
Geschwindigkeiten auszubauen. Darüber muss es eine bestmögliche Vernetzung und
Verzahnung von Bahnstationen, gerade im ländlichen Raum, mit anderen
Verkehrsmitteln wie Bussen oder Fahrradstationen geben.
Insbesondere die Teilhabe von Menschen auf dem Land ist unerlässlich, um das
Vorhaben der Verkehrswende umzusetzen. Thüringen hat hier einen Standortvorteil,
da es ein Land vieler kleiner Nebenbahnen ist und in vielen Orten noch alte
Bahngleise liegen. Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken konnte in der
Vergangenheit an unterschiedlichsten Orten in Deutschland erfolgreich realisiert
werden. Das Beispiel der Wiederauflage der Bentheimer Bahn spricht für sich.
Zudem ermöglicht diese Wiedererschließung auch den Anschluss mancher
Gewerbegebiete, was zu einer Entlastung des LKW-Verkehrs führt.
Mit dem aktuellen “Masterplan Schiene” der Thüringer Landesregierung sollen
tatsächlich vereinzelte Strecken wieder auf einen möglichen Betrieb überprüft
werden, hier muss aber noch viel mutiger agiert werden.
Häufig werden verschwommene Bedarfsanalysen vorgenommen, die erläutern, warum es
nicht wirtschaftlich ist, Strecken zu reaktivieren oder Verbindungen Randzeiten
anzubieten. Von diesem Ansatz muss sich ein Stück weit verabschiedet werden, da
andernfalls die Verkehrswende zu scheitern droht. Darüber hinaus zeigen die
erfolgreichen Reaktivierungen in den vergangenen Jahrzehnten, dass die
errechneten Bedarfe in vielen unter der tatsächlichen Nutzung lagen.
Wir fordern daher:
die schnelle Einführung eines integralen Taktfahrplans: Thüringentakt bzw.
Deutschlandtakt für mehr Synergieeffekte zwischen Fernverkehr, ÖPNV, SPNV
und Individualverkehr.
den flächendeckenden zweigleisigen Ausbau aller Zugstrecken, um eine
höhere Taktung zu ermöglichen.
den Bau von “Verkehrshubs”, um Bus und Bahn optimal zu vernetzen und
schnelle Umstiege zu ermöglichen.
den Ausbau aller Strecken für eine Geschwindigkeit von mindestens 120
km/h.
Machbarkeitsstudien zur Reaktivierung sämtlicher stillgelegter Strecken in
Thüringen.
Modellprojekte zur tatsächlichen Abschätzung der Bedarfe an bislang nicht
genutzten Schienenverkehrsverbindungen.
eine deutliche verbesserte Taktung zu den Randzeiten in die Peripherie und
die Einführung einzelner Nachtverbindungen.
→ Bahn fahren: klimaneutral und digital
Die Schiene zukunftsfest zu gestalten, heißt auch die großen gesellschaftlichen
Entwicklungen mitzudenken.
Bereits jetzt beträgt der Anteil elektrischer Züge bundesweit etwa 80 Prozent.
Jede:r, die:der jedoch schon einmal in Thüringen in die Bahn gestiegen ist,
weiß, dass wir hier weiter hinter dem Bundesdurchschnitt liegen. Gerade in Nord-
und Südthüringen wird ein großer Teil des Nahverkehrs mit Dieseltriebwagen
betrieben. Das ist auch gar nicht anders möglich, da die meisten Strecken nicht
über Oberleitungen verfügen - selbst die bedeutende Mitte-Deutschland-Verbindung
ist nicht durchgehend elektrifiziert. Zwar haben Dieselzüge mit ihren
Kapazitäten noch immer wesentlich bessere Klimabilanzen als PKWs, allerdings ist
auch mit ihnen keine klimaneutrale Mobilität zu erreichen.
Darüber hinaus verstehen es die Bahnbetreiber:innen noch nicht, die Potenziale
der Digitalisierung zu nutzen. Einerseits gibt es zahlreiche Prozesse, die noch
immer analog ablaufen - beispielsweise wird so manches Stellwerk noch von Hand
betrieben, andererseits gibt es zu wenig digitale Angebote: von WLAN in den
Bahnhöfen oder Zügen bis zur Mobilfunkabdeckung unterwegs.
Modernisierung muss daher auch Klimaneutralität und Digitalisierung heißen.
Wir fordern daher:
einen Bahnbetrieb mit 100 Prozent Ökostrom-Nutzung.
die Einführung digitaler Stellwerke für einen reibungslosen
Betriebsablauf.
mittelfristig elektrischer Betrieb auf sämtlichen Bahnstrecken in
Thüringen.
die Aufrüstung von Bahnhöfen und Zügen mit kostenlosen WLAN-Angeboten.
die Mobilfunkabdeckung aller Bahnstrecken durch den Ausbau der (passiven)
Mobilfunkinfrastruktur.
→ Klotzen statt Kleckern bei laufenden Ausbau-Projekten
Infrastrukturprojekte sind aufwendig und werden immer teurer. Darum ist es klar,
dass nicht von heute auf morgen sämtliche Strecken mit Oberleitungen versehen
und nicht im nächsten Monat jedes Dorf gut angebunden werden kann.
Doch zumindest die bereits laufenden Projekte müssen zukunftssicher zu Ende
gedacht und nicht immer nur in Teilen umgesetzt werden. Es kann nicht sein, dass
Projekte wie die Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung in
regelmäßigen Abständen aufgrund wechselnder Minister:innen im
Verkehrsministerium komplett zu scheitern drohen oder mit unsäglichen Deals im
Bundesrat um deren Finanzierung geschachert werden muss. Zum Vergleich: In den
Ausbau der Autobahn 4 sind seit 1990 ca. 3,5 Milliarden Euro geflossen, während
um die Mitte-Deutschland-Verbindung (ca. 600 Millionen Euro) lange gestritten
werden musste, inkl. unlauterer Deals..
Teilweise ziehen sich Projekte aufgrund schwankender Finanzierungszusagen über
Jahre und Jahrzehnte hin, sodass sie zwischenzeitlich komplett neu aufgesetzt
werden müssen, weil sich die bau- und planungsrechtlichen Bedingungen im Laufe
der Zeit geändert haben. Jüngstes Beispiel ist deutliche Verzögerung des Ausbaus
der Strecke Nordhausen-Erfurt.
Wir fordern daher:
eine grundsätzliche Priorisierung von Bauprojekten des Öffentlichen
Verkehrs über den Individualverkehr.
eine langfristige finanzielle Sicherung für Verkehrsprojekte, auch bei
eventuellen Kostensteigerungen.
eine Vereinfachung des Planungsrechts, um Ausbau- und Neubauprojekte auf
der Schiene zu beschleunigen.
→ Feminismus auf die Schiene bringen
Verkehrsplanung war und ist von patriarchalen Strukturen geprägt und richtet
sich daher nach wie vor häufig nach männlichen Mobilitätsbedürfnissen. Dies
äußert sich unter anderem in der Lage von Bahnhöfen und Haltepunkten, die
hauptsächlich anhand von Wegen der Männer zum Arbeitsplatz geplant werden oder
auch an der Einstiegshöhe von Zügen, die beispielsweise das Mitführen eines
Kinderwagens stark behindert.
Zudem stellt der SPNV für FINTA*-Personen ein besonderes Sicherheitsrisiko dar.
Im Großraumwagen oder an Bahnhöfen besteht immer die Gefahr, Opfer von
Belästigungen oder Gewaltverbrechen durch andere Fahrgäste zu werden,
insbesondere nachts.
Wir fordern daher:
eine konsequent feministische Verkehrsplanung, die sich an FINTA*-
Mobilitätsbedürfnissen orientiert, sowohl bei der Streckenplanung als auch
bei der Gestaltung der Fahrzeuge. Bisherige androzentrische Ansätze zur
Erfassung von Bedarfen und zur Organisation des Schienenverkehrs müssen
der Vergangenheit angehören.
eine bessere Ausleuchtung von Bahnhöfen und ein generelle Verbesserung der
Sicherheitslage an Bahnstationen und in den Zügen, beispielsweise durch
die Aufstockung des Security-Personals
verpflichtende Awareness-Schulungen für Zugbegleiter:innen, um bei
eventuellen Belästigungen von FINTA*-Personen besser und schneller
reagieren zu können. Zugbegleiter:innen und Security-Personal sollen immer
paritätisch unterwegs sein.
→ Schluss mit dem Ticket-Wahnsinn, Zeit für ein 365-Euro-Ticket für Thüringen
Thüringen-Ticket, Hopper-Ticket oder VMT-Verbundticket? Tageskarte, Vier-
Fahrten-Karte oder doch lieber Einzelfahrt?
Verschiedene Verkehrsverbünde und ein wirres Ticketangebot stellen für viele
eine extreme Hürde bei der Nutzung des Nahverkehrs da. Preise sind meist
undurchsichtig, verwirrend und nicht zuletzt teuer. Die Thüringer Kleinstaaterei
auch bei den Nahverkehrsverbünden ist kontraproduktiv. Gleichzeitig kann es
nicht die Lösung sein, alle Verbünde lediglich an den VMT anzubinden.
Das 9-Euro-Ticket, das im Rahmen des Osterpakets der Bundesregierung für drei
Monate erhältlich ist und den Öffentlichen Nahverkehr in ganz Deutschland
einbezieht, zeigt, dass es auch anders geht. Der Run auf das Ticket beweist, ein
simples und günstiges Ticket für den gesamten Nahverkehr wird sehr gut
angenommen.
Zur Ehrlichkeit gehört allerdings auch dazu, dass es vor allem Menschen in
urbanen Gegenden hilft und Personen, die im ländlichen Raum mit tendenziell
schlechterer ÖPNV- oder SPNV-Ausstattung, nur selten unterstützt.
Wir fordern daher:
die Landesregierung auf, einen neuen einheitlichen Verkehrsverbund zu
initiieren und die Verkehrsunternehmen zur Teilnahme zu verpflichten.
die Weiterentwicklung von Thoska und Azubi-Ticket zu kostenlosem
Nahverkehr für Schüler:innen, Azubis, Studierende und
Freiwilligendienstleistende.
kostenlosen Nahverkehr in ganz Thüringen für Sozialhilfeempfänger:innen,
Geflüchtete und Senior:innen.
die Einführung eines flächendeckend gültigen 365-Euro-Tickets für ganz
Thüringen.
Begründung
erfolgt mündlich