Veranstaltung: | Landeskonferenz der Jusos Thüringen 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | Antragsberatung LaKo |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landeskonferenz Jusos Thüringen |
Beschlossen am: | 17.10.2020 |
Eingereicht: | 16.11.2020, 16:23 |
Antragshistorie: | Version 1 |
O1 Ostquote im öffentlichen Dienst Sozialer Aufstieg für Alle – erstmal in Thüringen
Beschlusstext
Die SPD Thüringen setzt sich für die Einführung einer Ostquote im öffentlichen
Dienst in Thüringen ein. Die Ostquote muss der Voraussetzung genügen, dass
mindestens 50 % aller zu besetzenden Stellen auf allen Ebenen mit Menschen
ostdeutscher Sozialisation zu besetzen sind.
Begründung
Eine repräsentative Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)ermittelte 2019, dass sich fast jede:r zweite Ostdeutsche eine Ostquote im wirtschaftlichen und öffentlichen Sektor.[1]30 Jahre nach der Wiedervereinigung stagniert der Soziale Aufstieg in vielen Bereichen. In vielen Bereichen nimmt die Repräsentation von Ostdeutschen sogar ab. In der gesamtdeutschen Elite spielt die ostdeutsche Perspektive, ihre Lebensrealität und ihre ganz eigenen Herausforderungen nahezu keine Rolle. Während Ostdeutsche 17 % der Bevölkerung ausmachen, kommen auf die gesamtdeutsche Elite nur 1,7 %.[2]Während nur 13 % Westdeutsche in Ostdeutschland wohnen, besetzen sie dabei 77 % aller Führungspositionen in ostdeutscher Verwaltung, Wirtschaft und in den Medienhäusern. Es ist Zeit für einen sozialen Aufstieg für Alle, unabhängig ob man in Ost oder West geboren ist. Es ist Zeit für eine Ostquote.[3]
Ostdeutschland hat sich gemausert. Wo Anfang der 90er Jahre die neue Freiheit der Vermarktlichung als „gesellschaftlicher Tsunami“ mit einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit begann und fast jede:r Zweite nach 40 Jahren zum ersten Mal vor der Erwerbslosigkeit stand, sind die Zahlen heute, trotz Krisen, wesentlich besser. Es bleibt jedoch viel von dem, was den Ostdeutschen den Begriff „Pioniere des Prekariats“ einbrachte. Die Mehrheit der Ostdeutschen musste sich an die neuen Spielregeln in der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt anpassen, arbeitet heute nicht mehr im erlernten Beruf und weiterhin liegt Ostdeutschland in allen Kennziffern der Industriepolitik hinter den westdeutschen Bundesländern. Dass, es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung überhaupt partielle Wohlstandsverbesserung, punktuelle und kurzfristige positive Bewegungen der sozialen Mobilität zu verzeichnen und äußerst vorsichtige Anfänge der privaten Kapitalbildung gibt, verdankt Ostdeutschland der ostdeutschen Sozialdemokratie. Ohne ihren Einsatz und trotz der Arbeitsmarktreformen unter der rot-grünen Bundesregierung, ständen die Menschen in Ostdeutschland heute schlechter da.[4]Aber es bleibt viel zu tun. Das Ziel muss es weiterhin sein die gleichen Lebensverhältnisse in Ost und West und in Stadt und Land herzustellen.
Die Einführung der Marktwirtschaft „zerstörte bestehende Strukturen, weil tradierte Ansprüche, Schutzinteressen, Bindungen und Reproduktionsweisen unter Druck massiven Druck gerieten“.[5]Mit der Treuhandanstalt setzte die Bundesrepublik vor allem auf die Zerschlagung und den Verkauf, aber nicht den Erhalt der volkeigenen Betriebe. So fielen der Treuhandanstalt insgesamt 14.000 Betriebe zum Opfer und nur noch 140 Unternehmen schafften den Weg in die Marktwirtschaft der Bundesrepublik. Freilich war die Bundesrepublik mit der Situation der Wiedervereinigung und der Vermarktlichung organisatorisch und personell überfordert. Viele Unternehmen nutzten das aus. Diese Vermarktlichung bedeutete aber für die Beschäftigten Ostdeutschlands, die eben noch in einer sogenannten Erwerbstätigengesellschaft lebten, vor allem erstmal Entsicherung, Statusturbulenzen und Verlust, interessanterweise mittelfristig für Männer mehr, denn für Frauen. Stefan Mau schreibt dazu, dass die „eben noch durchorganisierte Arbeitsgesellschaft mit Beschäftigungsgarantie wurde innerhalb kurzer Zeit zur Sammelstelle der Massenarbeitslosigkeit.“ und „Der Betrieb als Hort der sozialen Integration und Versorgung hatte über Nacht seine Funktion verloren.“[6]Die Menschen konnten nur in einem Sozialsystem aufgefangen werden, was auch in Westdeutschland nicht umstritten war und durch Helmut Kohl mit der Proklamation der Einheit als Nationale Frage flankiert werden musste („Wir sind ein Volk.“). Währenddessen wurde Arbeitslosigkeit binnen kürzester Zeit zum ostdeutschen Kollektivschicksal, wobei die Folgen weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinausgingen. In praktisch jeder Familie musste(n) ein oft aber mehrere Mitglieder zu Hause bleiben, die urplötzlich nichts mehr mit sich anzufangen wussten und darauf warteten, dass die Gesellschaft ihnen ein Angebot machen würde.“[7]Die Anpassung machte keineswegs an der technischen Dimension Halt, sondern erforderte auch Anpassung in kultureller Hinsicht: „Die im Staatssozialismus erlernten Mentalitäten, Sozialtechniken, Hierarchiebegriffe und Loyalitäten sollten zugunsten adäquaterer Verhaltensweisen aufgegeben werden.“[8]Für Mau wurden die Ostdeutschen im Schnelldurchlauf ‚zoniert‘, also an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.[9]
All dies wirkt heute noch in den sozio-ökonomischen Kennzahlen nach, egal ob Löhne, Erbe, Vermögen, Privateigentum oder bei der Repräsentation und der damit verbundenen Sozialen Mobilität.
In den 70er Jahren krempelte die Sozialdemokratie unter Willy Brandt die gesamte Sozialstruktur der Bundesrepublik ordentlich um. Mit dem Berufsausbildungsförderung öffneten sich die Wege des Sozialen Aufstiegs für die breite Bevölkerung. Erstmals veränderte sich die Zusammensetzungen an den Hochschulen. Arbeiter:innenkinder stiegen auf, erst in der öffentlichen Verwaltung, dann immer mehr im privaten Sektor. Der Aufschwung tat sein Übriges. Bis in die 80er Jahre hinein konnte man in Westdeutschland von einer Aufstiegsgesellschaft sprechen, in der das sozialdemokratische Ideal des sozialen Aufstiegs verwirklicht wurde. Dies änderte sich in den 80er Jahren. Volker Beck beschrieb die Soziale Mobilität damals als Fahrstuhl, der ins Stocken geriet. In diesen stockenden Fahrstuhl stiegen in den 90er Jahren die Ostdeutschen ein. Den Aufstiegsblockaden der alten Bundesrepublik begegnete eine schätzungsweise 5-stellige Anzahl von Westdeutschen mit geografischen Abseitsbewegungen nach Ostdeutschland. Westdeutsche Eliten, vor allem Männer, konnten damit Statusgewinne erzielen, die in Westdeutschland nicht mehr möglich waren. Natürlich gab es vor allem in der ersten Phase nach der Wiedervereinigung funktionale Gründe für einen Elitentransfer nach Ostdeutschland. „Die ‚importierten‘ Führungskräfte brachten den Sachverstand mit, der vor Ort nicht existierte, waren als Infusion von Kompetenz und Wissen für das ermattete und marode Beitrittsgebiet gedacht.“ Heute ist es aber an der Zeit die Kanäle des Sozialen Aufstiegs in Ostdeutschland wieder für Ostdeutsche zu öffnen.
Heute führt dieser Umstand, der freilich nur als vorübergehende Unterstützungsleistung anvisiert war aber zu neuen Mobilitätsblockaden. Diese Mobilitätsblockaden müssen wir abbauen.
[2]vgl.: ebd.
[4]vgl.: Steffen Mau: Lütten Klein, S. 150-156.
[5]ebd.
[6]ebd. S. 151.
[7]ebd. S. 152.
[8] ebd. S. 156
[9]vgl.: S. 156.