Veranstaltung: | Landeskonferenz der Jusos Thüringen 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | Antragsberatung LaKo |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landeskonferenz Jusos Thüringen |
Beschlossen am: | 17.10.2020 |
Eingereicht: | 16.11.2020, 16:20 |
Antragshistorie: | Version 1 |
G1 Memorandum: Das Krankenkassensystem endlich solidarisch gestalten – Wann kommt die Bürger*innenversicherung?!
Beschlusstext
Zur Weiterleitung an den SPD-Landesparteitag und den SPD-Bundesparteitag
Noch immer ist das Krankenkassensystem durch seine Dualität von gesetzlicher-
(GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) geprägt von großen
Gerechtigkeitsdefiziten und Fehlanreizen, zu deren Behebung wir endlich eine
erneute Debatte um die inhaltliche Ausgestaltung einer Bürger*innenversicherung
und deren Einführung fordern. Die drei Stärksten Kritikpunkte sind nach wie vor:
1. der Wettbewerbsnachteil der GKV hinsichtlich der Versichertenstruktur und die
Verletzung des allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsatzes, indem sich gerade gut
Verdienende aus der GKV ausklinken dürfen
2. die systematische Verweigerung der PKV, sich an der Finanzierung wesentlicher
Elemente des Gesundheitssystems angemessen zu beteiligen, sodass diese Last
(entgegen aller gegenteiligen Querfinanzierungsmythen) wesentlich von den
Versicherten der GKV getragen wird
3. die nicht hinnehmbare Verfehlung der Mindestanforderung an eine
Krankenversicherung seitens der PKV, der Verantwortung für eine angemessene
Gesundheitsversorgung für ihre Mitglieder nachzukommen, was eine steigende
Anzahl von Menschen ohne Krankenversicherungsschutz belegt.
Begründung
Wahlkampfschlager 2017, danach in Vergessenheit geraten bzw. galant verschoben, weil es vielleicht doch ein zu heißes Eisen war? Nur so ist die stille Beerdigung des Projekts Bürger*innenversicherung zu erklären, die sicher einer der Punkte war, durch die es der SPD beim letzten Bundestagswahlkampf zumindest zeitweise gelungen ist, wieder Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit in Sachen Gerechtigkeit zu symbolisieren.
Wir Jusos sollten am ursprünglichen Ziel festhalten und dürfen uns nicht damit vertrösten lassen.
Momentan wird zum Beispiel behauptet, dass die Bürger*innenversicherung ja schleichend käme, weil Beamt*innen sich in immer mehr Bundesländern (angefangen 2018 in Hamburg, seit 2020 auch Thüringen) auch in der GKV versichern lassen könnten. Dies löst aber das grundlegende Problem nicht, sogar eher im Gegenteil, wie folgende (notwendigerweise pauschalisierte) Überlegung verdeutlichen soll:
Eine*r Beamte*r steht vor der Entscheidung, welche Versicherung zu wählen ist. Für viele wird der gesetzliche Tarif teurer sein, auch wenn nun das Äquivalent des Arbeitgeber*innenanteils übernommen wird, da das Einkommen hoch ist. Diese Gruppe profitiert also weiterhin von den Tarifen der PKV und wird vermutlich weiterhin eher dort eine Versicherung anstreben. Die andere Gruppe sind diejenigen, bei denen der PKV-Beitrag höher wäre als der Höchstbeitrag der GKV. Das ist der Fall, wenn Vorerkrankungen oder Risiken bekannt sind, die hohe Behandlungskosten erwarten lassen. Für diese Gruppe ist es günstiger, sich in der GKV versichern zu lassen, zumal sie nun auch da die Hälfte von der Arbeitgeber*in bezahlt bekommen. Für diese Gruppe verbessert sich also wirklich etwas und das ist positiv. Aber diese Versicherten werden aber in der GKV vermutlich auch höhere Leistungen in Anspruch nehmen.
Es wird also nur einer der Wettbewerbsnachteile ausgeglichen, den die GKV momentan gegenüber der PKV hat, nämlich dass Beamt*innen sich prinzipiell aussuchen dürfen, ob sie sich gesetzlich oder privat versichern. Was die Versichertenstruktur und damit Kostenerwartung angeht (gut Verdienende sind tendenziell gesünder), ändert sich also nichts für die GKV, eher ist das Gegenteil der Fall.
Immer öfter kommt es zudem dazu, dass Betroffene in der PKV ihre Beiträge nicht mehr zahlen können und im sogenannten Notlagentarif landen. Dort werden nur noch lebensbedrohliche Erkrankungen oder akute Schmerzzustände behandelt. Diese werden für die Leistungserbringenden aber so schlecht vergütet, dass eine Behandlung eigentlich nur aus good will erfolgen kann, weil sie damit nicht mal ihre Betriebskosten finanzieren können. Das heißt de facto, dass die Betroffenen keine Krankenversicherung mehr haben und selbst Termine bei akuten Beschwerden schwer zu bekommen sind. Vorsorgemaßnahmen werden gar nicht mehr erstattet, was potenziell höhere Langzeitkosten verursacht und die Lebensqualität oder sogar Lebensdauer der Betroffenen damit negativ beeinflusst. Diese Problem wird immer immenser: Während es 2015 ca. 80.000 Menschen ohne Krankenversicherung gab, sind es 2020 schon 143.000 (und damit sind diejenigen, die sich im schlechten Basistarif befinden noch gar nicht mitgerechnet).
Das darf nicht sein und wir fordern dringend, dass das Problem behandelt wird!
Hierbei besteht aus unserer Sicht übrigens die langfristige Lösung auch nicht darin, einen Notfonds für die Betroffenen einzurichten. Dies wird kurz- bis mittelfristig von der SPD zu Recht gefordert, darf aber auf keinen Fall dafür sorgen, dass das Problem nicht strukturell angegangen wird. So ein Fonds heißt nämlich nichts anderes, dass wieder die Solidargemeinschaft die Kosten abfangen muss und damit, die über Jahre hinweg solidarisch Beiträge gezahlt haben. Natürlich muss den Betroffenen jetzt geholfen werden (auch wenn sie gegenüber den Versicherten der GKV oft jahrelang von niedrigen Beiträgen profitiert haben) aber vor allem müssen wir das Anreizsystem ändern. Den Menschen darf nicht länger von der PKV versprochen werden, dass das deren Finanzierungssystem aufgehen würde (auch wenn sicherlich irgendwo im Kleingdruckten steht, dass das nicht garantiert ist). Das Anreizsystem für die Menschen ist falsch und dieses endlich zu beschränken hat nichts mit Freiheitsbeschränkungen zu tun, wie oft behauptet wird, sondern schützt sie davor, perspektivisch in finanzielle oder gesundheitliche Notlagen zu geraten und unser Solidarsystem davor, entweder steigende Kosten nicht tragen zu können bzw. der GKV-Gemeinschaft in unfairer Weise aufzubürden oder Betroffene ins offene Messer laufen zu lassen. Dies ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera und muss sich endlich ändern.
Wir fordern, endlich das System der Bürgerversicherung komplett einzuführen und keine Lückenstopferei zu betreiben, die das Kernprinzipien von Gerechtigkeit verstanden als Solidarität unangetastet lässt und Menschen zunehmend in Notlagen treibt!
Ein Gutes hat die Sache vielleicht: Bei einem neuen Anlauf kann die Bürger*innenversicherung gleich in gegenderter Form gefordert werden. 😉